Nach monatelangen Betrugsvorwürfen gibt der Shootingstar der Börse zu: Ein Viertel seines Geldes existiert offenbar nicht. Der Kurs implodiert, die Anleger flüchten und schon in wenigen Stunden könnten die Banken abspringen. Wirecard-Chef Markus Braun muss endlich reinen Tisch machen.

Die Pflichtmitteilung, die Wirecard heute Morgen um 10 Uhr 43 veröffentlicht hat, wird in der deutschen Wirtschaftsgeschichte wohl noch lange ihresgleichen suchen. Sie enthält ein Stück in dürre Worte gekleidete Wahrheit über den Münchner Payment-Anbieter, dem Investigativjournalisten, Finanzaufseher, Ermittler und Hedgefonds-Händler schon lange hinterherhecheln. Man sei informiert worden, „dass über die Existenz von […] Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro (dies entspricht in etwa einem Viertel der Konzernbilanzsumme) noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise zu erlangen waren“, teilte Wirecard nüchtern in bestem Buchhalterdeutsch mit.

Mehr Sprengstoff hat wohl kaum ein Rechnungsprüfer je in einen Satz gepackt. Denn kurz gesagt heißt das: ein Viertel des Geldes, das der Dax-Konzern angeblich auf den Büchern hat, gibt es wohl nicht. Nur Stunden vor der Bilanz-Pressekonferenz verweigern die eigenen Revisoren der Firma das Prüfsiegel.

Angeblich gibt es laut Wirecard Hinweise, dass die Banken den Dax-Konzern getäuscht haben könnten, er will deshalb Anzeige erstatten. Aber das ändert nichts daran, dass mit der Enthüllung nun die Stunde der Wahrheit gekommen ist. Die Entzauberung des Shootingstars der Deutschen Wirtschaft hat begonnen. Der Kurs ist kollabiert, über 60 Prozent des Börsenwerts an einem Tag verpufft, Großinvestoren wie DWS springen ab. Und es ist fraglicher denn je, ob der Konzern das heil überstehen kann.

Wirecard – eine einzige „Katastrophe“

Wortlaut der Wirecard-Mitteilung

„Der Abschlussprüfer der Wirecard AG, die Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, München, hat die Wirecard AG darüber informiert, dass über die Existenz von im Konzernabschluss zu konsolidierenden Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro (dies entspricht in etwa einem Viertel der Konzernbilanzsumme) noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise zu erlangen waren.“

„Es bestehen Hinweise, dass dem Abschlussprüfer von einem Treuhänder bzw. aus dem Bereich der Banken, welche die Treuhandkonten führen, unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken vorgelegt wurden, damit dieser ein unrichtiges Vorstellungsbild über das Vorhandensein der Bankguthaben bzw. die Führung von Bankkonten zugunsten der Wirecard-Gesellschaften erhalte.“

Das Eingeständnis, dass in den Büchern ein mysteriöses Milliardenloch klafft, ist für das Fintech nichts weniger als die Kapitulation. Seit mehr als einem Jahr verfolgen den Zahlungsdienstleister Vorwürfe von massivem Bilanzbetrug. Nun gibt er selbst zu, dass es 1,9 Milliarden gute Gründe gibt, an seinen traumhaften Geschäftszahlen zu zweifeln. Und viele Anleger fragen sich unweigerlich, ob das Geld verschwunden ist oder einfach nie da war, weil Wirecard statt echter Umsätze tatsächlich Luftbuchungen getätigt hat, so wie es immer wieder berichtet worden ist.

Die britische „Financial Times“, die den Münchner Konzern seit Monaten mit ihren Enthüllungen vor sich hertreibt, fasst das Debakel mit nur einem Wort zusammen, passenderweise auf Deutsch: „Katastrophe“. Man kann gar nicht genug betonen, wie Recht sie hat: Die Finanzaufsicht Bafin hat Wirecard wegen Verdacht auf Marktmanipulation angezeigt. Die Münchner Staatsanwaltschaft hat deshalb erst kürzlich die Wirecard-Büros durchsucht. Beide wollen die Bilanzlücken auf den Wirecard-Konten in Asien untersuchen. Die Deutsche Börse will womöglich ein Verfahren einleiten, Anlegerschutzverbände erwägen Sammelklage. Und die Anlegerkanzlei Tilp, die bereits auf Schadenersatz klagt, spricht inzwischen von einem „handfesten Bilanzskandal“.

Wirecard hat mit seinem Offenbarungseid jegliche Glaubwürdigkeit verspielt. Journalisten, die zuvor über Unregelmäßigkeiten in der Bilanz berichtet hatten, hetzte der Konzern Anwälte auf den Hals und machte sie mit Unterlassungsklagen mundtot. Kritiker der Firma wurden in London von Ex-Geheimdienstlern bespitzelt. Und nun räumt sie selbst massive Hinweise auf Bilanzbetrug ein – verlogener geht es kaum.

Endspiel für das Wunderkind der Wirtschaft

Auch wenn Firmenchef und Gründer Markus Braun mit dem Finger auf andere zeigt: Er steht in der Haftung für manipulierte Bilanzen, selbst wenn Banken oder Dienstleister Wirecard getäuscht haben sollten. Dass nun plötzlich Milliarden auf Konten verpuffen, ist auch ein persönliches Fanal für ihn. Niemand anderer als Braun, der selbst größter Wirecard-Aktionär ist, hätte ein größeres Interesse, die Wahrheit zu vertuschen. Immer wieder hat er in den vergangenen Monaten Hinweise auf Unregelmäßigkeiten heruntergespielt, Kritiker angegriffen und versucht, seine Weste mit Gutachten und Beschwichtigungen reinzuwaschen.

Er inszenierte Wirecard als Opfer geheimer Verschwörungen an den Finanzmärkten, obwohl der Konzern womöglich selbst betrogen hat. Seine Methode war dabei nicht etwa, reinen Tisch zu machen und Vertrauen zu gewinnen, sondern die Salamitaktik. Unangenehme Wahrheiten hat er stets scheibchenweise verabreicht. Bereits dreimal hatte er den Wirecard-Jahresabschluss verschoben, bevor er nun die Bombe platzen ließ. Und die schlechte Nachricht veröffentlichte Braun nicht etwa außerbörslich, sondern mitten im Handelstag, als es nicht mehr anders ging. Diese Masche zieht nun nicht mehr.

Zu groß ist nun der Druck auf das Dax-Wunder Wirecard, das erst vor knapp zwei Jahren die altehrwürdige Commerzbank aus der ersten Börsenliga verdrängt hat. Ein Weltkonzern, der aus dem Nichts in einem Münchner Vorort entstand und seinen Siegeszug nicht Maschinen oder Autos, sondern dem Bezahlen im Internet verdankt – womöglich war diese Geschichte einfach zu schön, um wahr zu sein. Einst schien nichts den Höhenflug von Wirecard stoppen zu können. Nun ist das Vorzeigeunternehmen der New Economy krachend auf dem Boden der Tatsachen gelandet.

Wenn es bis Freitag keinen testierten Jahresabschluss gibt, können Banken Wirecard den Geldhahn zudrehen und Kredite in Höhe von 2 Milliarden Euro kündigen. Spätestens dann ist mit den Mauscheleien Schluss. Falls es so kommt, haben Wirecard und Markus Braun niemandem Vorwürfe zu machen als sich selbst.

Quelle: ntv.de

https://www.n-tv.de/wirtschaft/Das-ist-der-Tag-der-Wahrheit-fuer-Wirecard-article21856366.html

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